Die EU will Datenschutz und KI-Regeln vereinfachen – doch zu welchem Preis?
Ich musste zweimal hinsehen, als ich die Details des neuen EU-Vorhabens las. Es nennt sich „Digital Omnibus“ – ein sperriger Name für eine Initiative, die einige der wichtigsten europäischen Digitalgesetze, vom GDPR (Datenschutzgrundverordnung) bis zur KI-Verordnung, aufweichen soll. Offiziell geht es darum, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und bürokratische Hürden zu senken. Doch wie immer, wenn etwas vereinfacht werden soll, fragt man sich: Für wen eigentlich?
Wenn du mit EU-Nutzerdaten arbeitest – sei es für Tracking, Werbung oder KI-Systeme – betrifft dich dieser Entwurf direkt. Auch wenn noch nichts beschlossen ist, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Ich habe mir die Richtung des Entwurfs angeschaut und was er für Marketing-, Datenschutz- und Tech-Verantwortliche bedeuten kann.
Was sich konkret ändern soll
In der Idee steckt viel Bürokratieabbau. Der Vorschlag bündelt Anpassungen mehrerer Gesetze gleichzeitig – von der DSGVO über den AI Act bis zu den Cookie-Regeln.
Ein paar Punkte stechen besonders hervor:
1. Lockerung bei Hochrisiko-KI-Systemen: Statt ab August 2026 sollen verschärfte Pflichten erst 2027 greifen. Für manche Systeme wird die Dokumentation vereinfacht, Prüfverfahren wandern stärker in die Zuständigkeit des neuen EU-AI-Büros. Das klingt harmlos, bedeutet aber: weniger Aufwand für Unternehmen – und potenziell weniger Kontrolle.
2. Klarere Regeln für „anonymisierte“ Daten: Die EU-Kommission will neu definieren, ab wann ein Datensatz nicht mehr als persönlich gilt. Das Ziel: KI und Forschung sollen leichter auf pseudonymisierte Daten zugreifen dürfen. Für die Praxis wäre das eine massive Erleichterung, denn viele Unternehmen kämpfen mit der Unsicherheit, ob Trainingsdaten noch unter die DSGVO fallen oder nicht.
Doch Datenschützer warnen: Diese neue Lesart könnte Subjektivität einführen – also, dass es künftig reicht, wenn ein Datenverantwortlicher behauptet, er könne eine Person nicht identifizieren. Die Kontrolle durch Aufsichtsbehörden würde so geschwächt.
Cookies, Banner und Browser-Signale
Wenn du im Online-Marketing arbeitest, ist das wahrscheinlich der Teil, der dich am meisten interessiert. Die EU möchte die berüchtigte „Banner-Müdigkeit“ bekämpfen – also die Flut von Cookie-Hinweisen, die Nutzer ohnehin kaum mehr lesen.
Der Vorschlag sieht vor, dass einige Cookies künftig keine ausdrückliche Einwilligung mehr benötigen. Dazu zählen funktionale und bestimmte analytische Cookies, sobald sie als „nicht risikobehaftet“ gelten. Außerdem sollen schließlich Browser selbst zum Ort der Datenschutzsteuerung werden: Du stellst deine Privatsphäre zentral ein – und Websites müssen sich daran halten.
Das wäre ein Schritt weg vom bisherigen Opt-in-Chaos hin zu einer konsistenten Nutzerentscheidung. Realistisch betrachtet, wird es aber Jahre dauern, bis alle Browser dieselben Standards unterstützen.
KI-Training und Datenrechte
Ein weiterer Zankapfel betrifft die Nutzung personenbezogener Daten für das Training von KI-Systemen.
Der Digital-Omnibus würde Internet- und KI-Riesen wie Google, Meta oder OpenAI erlauben, personenbezogene Informationen von Europäern in größerem Umfang zu nutzen – und zwar auf Basis eines erweiterten rechtlichen Rahmens. Statt expliziter Zustimmung würde ein „berechtigtes Interesse“ reichen. Das klingt harmlos, ist aber in der Praxis ein Freifahrtschein für den Einsatz historischer Verhaltensdaten.
Privacy-Organisationen warnen, dass so auch lange Social-Media-Historien oder Suchprotokolle ins Training fließen könnten. Zwar gäbe es ein Opt-out, aber dessen Umsetzung wäre für normale Nutzer kaum zu handhaben. Du kennst das selbst: Wenn Opt-outs kompliziert sind, klickt kaum jemand drauf.
Spannend ist, dass die Kommission solche Regelungen offenbar als Antwort auf die KI-Dominanz der USA und Chinas versteht. Europa soll aufholen – aber eben durch Lockerung des Datenschutzes. Das riecht nach einem Richtungswechsel.
Warum das alles wichtig ist
Wenn du in Marketing, Produktentwicklung oder Compliance arbeitest, wird dieser Wandel in den nächsten Jahren spürbar sein. Das gilt besonders für:
- Analytics: Du könntest bald auf Pseudonymdaten zugreifen, die bisher tabu waren – z. B. zur Trainingsoptimierung von Recommendation Engines oder Chatbots.
- Cookie-Management: Consent Management Platforms (CMPs) müssten Browser-Signalstandards unterstützen. Die klassische Pop-up-Flut würde wohl abnehmen.
- KI-Produkte: Firmen könnten leichter auf echte Verhaltensdaten zugreifen, solange sie (angeblich) anonymisiert sind.
Doch das alles hat seinen Preis: mehr Verantwortung für dich als Datenverantwortlichen, aber weniger Kontrolle durch Datenschutzbehörden. Für Agenturen und Entwickler könnte das recht angenehm sein – für Bürgerinnen und Bürger wohl weniger.
Ich finde besonders bemerkenswert, wie stillschweigend der Fokus verschoben wird: von „Schutz individueller Privatsphäre“ hin zu „Förderung digitaler Wettbewerbsfähigkeit“. Das ist politisch geschickt verpackt, aber inhaltlich ein Paradigmenwechsel. In meinen Gesprächen mit Datenschutzbeauftragten höre ich immer häufiger dieselbe Sorge: Die DSGVO könnte zu einem reinen Rahmenwerk degradiert werden – ihre Durchsetzung zum Spielball wirtschaftlicher Interessen.
Auf was du achten solltest
Mehrere Punkte verdienen in den kommenden Monaten besonderes Augenmerk:
- Europäisches Parlament: Es wird entscheiden, ob die Änderungen am KI-Training und an den Datenbegriffen Bestand haben.
- Browser-Hersteller und CMP-Anbieter: Sobald sie Signale standardisieren, musst du prüfen, ob deine Website diese automatisch respektiert.
- Recht auf Widerspruch: Wie einfach das neue Opt-out für KI-Training tatsächlich wird, ist völlig offen. Einige Juristen erwarten, dass es wie bei Werbung endet: formal vorhanden, aber praktisch kaum nutzbar.
- Übergangsfristen: Auch wenn die Änderungen erst 2027 greifen, wird die Industrie sofort Anpassungen vorbereiten. Wer früh beginnt, hat später weniger Stress.
Im Klartext bedeutet das: Deine aktuellen Consent-Banner, GA4-Setups oder KI-Prozesse kannst du erstmal weiterlaufen lassen – aber du solltest beobachten, wie die Mitgliedstaaten reagieren. Einige, etwa in Skandinavien, gelten immer noch als sehr strikt beim Datenschutz. Sollte der Entwurf zu weit gehen, drohen rechtliche Konflikte.
Interessant ist auch die politische Dimension: Die EU versucht, gleichzeitig Innovation zu fördern und Verbraucherschutz zu wahren – zwei Ziele, die sich selten ohne Reibung vereinbaren lassen. Dieses Spannungsfeld spiegelt sich exakt in der Digital-Omnibus-Debatte wider.
Mein Fazit
Aus meiner Erfahrung mit europäischen Datenschutzprojekten weiß ich: Bürokratieabbau klingt gut, aber in der Praxis kippt es oft in Grauzonen. Wenn Controllerselbsteinschätzungen künftig bestimmen, wann Daten „nicht mehr persönlich“ sind, öffnet das Tür und Tor für Missbrauch – selbst bei wohlmeinenden Firmen.
Und doch: Vielleicht ist etwas Pragmatismus nötig. Die Datenschutzarchitektur der EU stammt im Kern aus einer Zeit vor generativer KI und personalisierten Sprachmodellen. Wenn Brüssel die Regeln nicht anpasst, droht Europa, technologisch endgültig abzuhängen. Die Kunst wird darin liegen, diese Modernisierung zu schaffen, ohne das Vertrauen der Bürger zu verspielen.
Für dich als Marketer oder Entwickler heißt das: Jetzt aufmerksam bleiben. Lies die kommenden Entwürfe, prüfe regelmäßige Updates deiner Consent-Systeme, und plane langfristig Datenstrategien, die flexibel genug bleiben, um sich auf neue rechtliche Realitäten einzustellen. Die Zeiten, in denen man Datenschutz als bloße Pflicht sah, sind vorbei – er wird zunehmend zum strategischen Wettbewerbsfaktor.
Am Ende bleibt der Eindruck eines Balanceakts: Auf der einen Seite die Sehnsucht nach Fortschritt, auf der anderen der Schutz der Privatsphäre. Die EU wird beweisen müssen, dass beides gleichzeitig möglich ist. Ich bin skeptisch – aber zumindest bewegt sich etwas.